Das Prinzip der Bürgerversicherung: Alle Bürger und alle Einkommensarten tragen bei, dann sinken die Beitragssätze
Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung leidet darunter, dass die Beiträge nur auf Löhne und Gehälter erhoben werden, und die Bürger mit den höchsten Einkommen und der besten Gesundheit zu einem großen Anteil nicht in dem solidarischen System mit versichert sind. Somit sind sowohl der
Versichertenkreis als auch die
Einkommensbasis zu schmal. Die gesetzliche Krankenversicherung ist in gewissem Sinne ein System der „Solidarität der Schwachen“, weil sich Gutverdienende, Selbstständige und Beamte dem System systematisch entziehen können, um sich privat zu versichern. Da Gesundheit in Deutschland wie in allen anderen Industrieländern mit dem Einkommen und der Bildung korreliert, verliert das gesetzliche Krankenversicherungssystem insbesondere die Mitglieder, die gleichzeitig einkommensstärker und gesünder als der Durchschnitt sind. Mit jedem Mitglied, welches die gesetzliche Krankenkassen als sogenannter freiwillig Versicherter verlässt, verliert die Gesetzliche Krankenkasse nach Berücksichtigung der Kosten des Mitglieds etwa 3.500 Euro jährlich. Dazu kommt, dass durch die Beschränkung der Beitragsbasis auf Löhne und Gehälter die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann steigen, wenn es mehr Arbeitslose oder Kurzarbeiter gibt. Der dann folgende Beitragssatzanstieg trägt wiederum zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit bei, ein Teufelskreis.
Das relativ stärkere Wachstum von Einkommen aus Selbständigkeit oder Kapitaleinkünften steht für die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung kompensatorisch aber leider nicht zur Verfügung.
Die Bürgerversicherung dient daher der konsequenten Bekämpfung der beiden Hauptursachen für steigende Beitragssätze. Sie schließt zukünftig auch die Gutverdienenden, Beamten und Selbstständigen in das solidarische System der Krankenversicherung ein. Außerdem würden auch Beiträge auf Miet-, Zins- und Kapitaleinkünfte erhoben. Wären heute alle Bürger in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert und es würden auch Beiträge auf Miet-, Zins- und Kapitaleinkünfte genommen, läge der Beitragsatz der Krankenkassen bei nur 12,4 %1 und würde durch die jetzt beschlossene Strukturreform auf unter 11 % im Jahre 2007 sinken.
Davon würde der Arbeitsmarkt stark profitieren.
Bürgerversicherung ist keine Einheitskasse, sondern bietet mehr Qualität und Wettbewerb als heute
Würden alle Bürger in die solidarische Krankenversicherung aufgenommen, käme es trotzdem nicht zu einer Einheitskasse. Neben den jetzt bestehenden über 300 gesetzlichen Krankenkassen könnten sich auch die über 50 privaten Krankenkassen an der Bürgerversicherung beteiligen. Unabhängig von der Bürgerversicherung würde sich durch den Wettbewerb sicher die Kassenzahl langfristig reduzieren. Voraussetzung für die Teilnahme der privaten Krankenversicherungen wäre es jedoch, dass sie Beiträge in Abhängigkeit vom Einkommen der Versicherten nehmen müssten und nicht das gesundheitliche Risiko des Einzelnen bei der Beitragsbemessung berücksichtigen dürften.
Jetzt ist es in der PKV genau umgekehrt. Das Einkommen wird nicht berücksichtigt, wohl aber der Gesundheitszustand. Würde man dieses Prinzip für alle Versicherten erlauben, wäre dies unerträglich ungerecht, weil ein armer Behinderter mehr Beitrag zu leisten hätte als ein reicher Gesunder. In einer solidarischen privaten Krankenversicherung würde der arme Behinderte weniger Beitrag zahlen als der einkommensstarke Gesunde. Die private Krankenversicherung wäre dennoch gegen die Ansammlung von Menschen mit schlechten Risiken geschützt, weil sie am Risikostrukturausgleich teilnehmen würde.
Der Unterschied zur gesetzlichen Krankenkasse bestünde in einer Bürgerversicherung darin, dass die private Krankenversicherung auch Gewinne erzielen könnte. Die Unternehmen der PKV würden also in einer Bürgerversicherung überleben, nicht aber das Prinzip kapitalgedeckter risikoabhängiger Prämien ohne Solidarität, weil dieses auch nicht schützenswert ist. Das bereits angesparte Kapital der privaten Krankenversicherungen, etwa 10.000 Euro für jeden jetzt dort Versicherten im Durchschnitt, würde nicht angetastet werden.
Neue Mitglieder der privaten Krankenversicherung würden aber genau wie die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung in einer Bürgerversicherung per Umlage abgesichert werden.
Bürgerversicherung und mehr Kapitaldeckung im Rentensystem sollten kombiniert werden
Es wird also durch die Einführung der Bürgerversicherung kein bestehender Kapitalstock in der privaten Krankenversicherung abgebaut, sondern nur der weitere Aufbau für neue Mitglieder unterbunden. Ist dies nicht ein Rückschritt, brauchen wir nicht mehr Kapitaldeckung in Anbetracht der demographischen Herausforderung? Die Antwort ist sicher ja, es wird mehr Kapitaldeckung benötigt. Jedoch gilt dies in erster Linie für das Rentensystem, welches nur über den Aufbau der zusätzlichen kapitalgedeckten Rente noch den Lebensstandard erhalten kann. Und da sowohl die Menge Kapital, die eine Gesellschaft ansparen kann, als auch die Menge, die sie ansparen sollte, endlich sind, ist der beste Platz für Kapitaldeckung in einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft wie Deutschland das Rentensystem. Das erste Ziel der ergänzenden Kapitaldeckung muss die Vermeidung von Altersarmut sein. Wenn kapitalgedeckte Renten auch für die Bürgerversicherung verbeitragt werden würden, würde auch die Krankenversicherung von der zunehmende Kapitaldeckung im Rentensystem profitieren. Die Bürgerversicherung wäre also nicht kapitalgedeckt, sondern „kapitalunterstützt“.
Eine solche „kapitalunterstützte“ Krankenversicherung macht mehr Sinn als eine Kapitaldeckung für Gutverdienende und Beamte. Die Kapitaldeckung in der privaten Krankenversicherung hat sich nämlich nicht wirklich bewährt. Trotz Kapitaldeckung sind die Beiträge der privaten Krankenversicherung in den letzten zehn Jahren deutlich stärker gestiegen als in der gesetzlichen Krankenversicherung, und das, obwohl die privat Versicherten im Durchschnitt gesünder sind als die gesetzlich Versicherten.
(Nach Angaben über einen großen Anbieter privater Krankenversicherung sind die Beiträge von 1984 bis 2002 gegenüber der GKV für einen Mann um 200%, für eine Frau um 178% gestiegen, wohingegen der durchschnittliche Beitrag für die GKV im gleichen Zeitraum nur um 117% angestiegen ist (http://www.dewion.de Einsicht zuletzt am 12.12.2003). Die Beitragseinnahmen je Vollversichertem sind in der PKV zwischen 1992 und 2001 von rund 1210 Euro auf rund 1904 Euro angewachsen, womit eine Steigerung um 57% vorliegt. Im gleichen Zeitraum sind die Einnahmen pro Versichertem in der GKV von 1380 Euro auf 1858 Euro angestiegen, was einem Anstieg um nur 35% entpricht.)
Kapitaldeckung hat zur Folge, dass schlechte Risiken abgewiesen oder teurer versichert werden müssen. Dieser unangenehme Prozess der Risikoselektion erhöht die Verwaltungskosten der privaten Krankenversicherung, die mehr als doppelt so hoch sind wie die der gesetzlichen Krankenkassen3. Und eine echte demographische Reserve hat sich auch aus der Kapitaldeckung nicht heraus aufbauen lassen. Die oben genannten Rückstellungen von nur durchschnittlich 10.000 Euro pro Versichertem halten nicht lange vor. Das kapitalgedeckte System ist in der Summe unsolidarisch, bürokratisch und wenig effizient. Es verhindert derzeit sogar einen Kassenwechsel innerhalb der PKV, da sonst die Altersrückstellungen des Versicherten verloren gehen. Ebenso wenig ist eine Rückkehr in die GKV für ältere PKV Versicherte möglich. Somit haben die privaten Krankenversicherungen heute paradoxerweise deutlich weniger Wettbewerb, als sie es in einer Bürgerversicherung hätten, weil dort jederzeit der Wechsel zu einer anderen privaten oder gesetzlichen Bürgerversicherung möglich wäre. Die PKV-Unternehmen scheuen diesen Wettbewerb leider, und wollen sich weiter auf die Absicherung von Gutverdienenden und Beamten konzentrieren. Das ist die „Wahrheit über die PKV“.
Versichertenkreis erweitert sich in Bürgerversicherung nur langsam, Bestandschutz gewährleistet
Eine Bürgerversicherung kann nur stufenweise und unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes derjenigen eingeführt werden, die bereits in anderen Systemen versichert sind. Daher sollte die Bürgerversicherung nur neue Beamte, Selbstständige und Gutverdienende aufnehmen; für alle, die schon durch die Beihilfe oder eine private Krankenversicherung abgesichert sind, sollte sich nichts ändern. Damit würde sich der Versichertenkreis bei der Einführung der Bürgerversicherung nur allmählich erweitern.
Für neue Beamte müsste der Arbeitgeber einen dem Arbeitgeberbeitrag entsprechenden Lohnzuschlag zahlen. Dieser könnte am Anfang höher liegen als die üblichen Beihilfezahlungen für neue Beamte. Zunächst hätten Bund und Länder Zusatzkosten. Werden diese Beamte jedoch älter, kehrt sich der anfängliche Verlust um in einen Gewinn. Denn für ältere Beamte steigen die Kosten von Jahr zu Jahr, während sich der dem Arbeitgeberbeitrag entsprechende Lohnanteil nicht verändern würde. In der überwiegenden Zahl der ärztlichen Behandlungen wird heute für Beamte der 2,3-fache Satz der GOÄ gezahlt, obwohl es sich bei Beamten im Durchschnitt um Patienten mit günstigen Risiken handelt. Beamte haben z.B. eine über dem Durchschnitt der Bevölkerung liegende Lebenserwartung. Die höhere Vergütung der Leistungserbringer für tendenziell gesündere Patienten ist widersinnig.
Zusammenfassend würden langfristig sowohl die Sozialgemeinschaft als auch der Staat durch die Überführung der neuen Beamten gewinnen, verlieren würden die Leistungserbringer, die für leichte Fälle nicht mehr 2,3-fach liquidieren könnten. Wahrscheinlich aus diesem Grund lehnt der Hartmannbund der Ärzte die Bürgerversicherung ab. Es entspricht aber nicht der ärztlichen Ethik, Patienten nur deshalb zu bevorzugen, weil sie besser zahlen. Bessere Bezahlung sollte vielmehr an die Qualität der Leistungen gebunden sein, weshalb im übrigen das Vertragsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigungen mit Einheitsverträgen nicht mehr zeitgemäß ist.
Miet,- Zins- und Kapitaleinkünfte sollten direkt durch das Finanzamt verbeitragt werden
Bislang erfahren die Krankenkassen nichts über die Vermögensverhältnisse ihrer Versicherten. Dies sollte auch in einer Bürgerversicherung so bleiben. Daher sollten Miet,- Zins- und Kapitaleinkünfte vom Finanzamt direkt verbeitragt werden und über den Risikostrukturausgleich den Krankenkassen zugeführt werden. Denkbar wäre eine Abführung über die Einkommenssteuererklärung ohne sogenannten horizontalen Verlustausgleich.
Dieses Verfahren wurde noch bis zum April 2002 für freiwillig versicherte Rentner in der GKV praktiziert und hatte sich bewährt. Kommt es in Zukunft zu einer Pauschalsteuer für die genannten Einkünfte, könnte auch ein pauschaler Beitrag für die Krankenversicherung erhoben werden.
Derjenige, der bereits Beiträge auf Löhne und Gehälter bezahlt, teilt dies dem Finanzamt mit und erhält eine Rückerstattung. Die Bürgerversicherung ist somit ein schlüsselfertiges System, welches keinen langen bürokratischen Vorlauf benötigt und ohne radikalen Bruch mit dem bestehenden System eingeführt werden kann.
Beitragsbemessungsgrenze
Die Versicherungspflichtgrenze sollte ganz aufgehoben werden, so dass alle neu zu Versichernden in die Bürgerversicherung aufgenommen würden. Aber bei einer Beitragsbemessungsgrenze sollte es in der Bürgerversicherung auch langfristig bleiben. Ohne Beitragsbemessungsgrenze würde der Beitrag für die Bürgerversicherung wie eine Steuer erhoben. Dies entspricht aber nicht dem Charakter einer wettbewerblichen Versicherung, sondern in der Tat eher einer Art staatlicher Einheitskasse, die abzulehnen ist. Auch mit Beitragsbemessungsgrenze besteht in der Bürgerversicherung keine vollständige Äquivalenz zwischen Versicherungsleistung und Beitrag. Auch sind die Beiträge nicht vollständig leistungsabhängig, weil die Leistungsabhängigkeit nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt wird. Dennoch handelt es sich um einen guten Kompromiss zwischen Äquivalenzprinzip und Steuersystem. Einkommensunterschiede werden bei der Beitragsbestimmung berücksichtigt, ohne dass es zu den Haushaltsabhängigkeiten und zu der Einheitsversorgung eines Steuersystems käme. Ohne Beitragsbemessungsgrenze wären im übrigen
Beiträge von
mehreren hundert tausend Euro möglich, was die
Akzeptanz des
solidarischen Systems stark in Frage stellen würde.
Eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze wäre langfristig sicherlich sinnvoll, denn die jetzige Beitragsbemessungsgrenze ist deutlich niedriger als zum Beispiel die Beitragbemessungsgrenze für das Rentensystem. Sie ist verteilungspolitisch nicht unproblematisch, da die relative Belastung der Haushalte durch die Krankenversicherung bereits ab mittleren Einkommen von 3.450 abnimmt. Aber eine kurzfristige Erhöhung noch vor der Erweiterung des Versichertenkreises und der Einbeziehung anderer Einkommensarten wäre insofern problematisch, als dass dies die Beitragssätze senken, die Gesamtbelastung für den Faktor Arbeit aber erhöhen würde. Mehr Arbeitnehmer als Rentner wären nämlich von der neuen Beitragsbemessungsgrenze betroffen. Der Anteil der Gesamtkosten der Krankenversicherung, der durch Rentner getragen wird, würde sinken, der Anteil der Arbeitnehmer entsprechend steigen. Damit würden trotz sinkender Beitragssätze die Unternehmen stärker belastet.
Sinnvoll wäre daher eine schrittweise durchzuführende Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze ab dem Jahr 2010 bis zum Jahr 2030 bis auf das Niveau der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung, welches jetzt bei 5.100 Euro liegt. Durch die sofortige Einbeziehung anderer Einkommen und die schrittweise durchzuführende Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten (die mehr in die Bürgerversicherung einzahlen als sie an Kosten verursachen) würde die Mehrbelastung der Unternehmen kompensiert werden. Unternehmen mit durchschnittlichen Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze würden sogar entlastet. Solche Unternehmen befinden sich sehr häufig im Dienstleistungsbereich, in der Bauindustrie und im Genuss- und Gaststättengewerbe, wo eine solche Entlastung deutliche Konjunktur- und Arbeitsmarktimpulse geben würde.
Die Bürgerversicherung und die demographische Herausforderung
Wenn die Bürgerversicherung so wie beschrieben eingeführt würde, läge der Beitragssatz im Jahr 2030 bei 15,06 %. Diese Berechnung berücksichtigt die bis dahin zu erwartende Alterung der Bevölkerung und den damit einhergehenden Anstieg der Kosten der Versicherten. Die für die jeweiligen Altersgruppe geltenden Kostenprofile wurden für die Abschätzung aus dem Risikostrukturausgleich genommen und auf den veränderten Aufbau der Alterstruktur angewendet. Gleichzeitig wurden die Beitragsbemessungsgrenze von 5.100 Euro verwendet und die bis dahin zu erwartende Veränderung der Grundlohnsumme der Bürgerversicherung, der erweiterte Versichertenkreis und die Einbeziehung von Miet-, Zins- und Kapitaleinkünften bis zur Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt. Mehrausgaben im Vergleich zu heute (Basisjahr 2001) von 29,5 Mrd. Euro stehen Mehreinnahmen von 23,7 Mrd. Euro gegenüber. Diskontierung sowie Inflation wurden nicht in die Berechnung einbezogen. Weiterhin nicht berücksichtigt wurde der technische Fortschritt, der zu einem höheren Beitragssatz führen könnte, wenn die Ausgaben für die Krankenversicherung schneller steigen würden als das Bruttoinlandsprodukt. Dies war aber in der Vergangenheit nicht der Fall. Die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung sind nicht gestiegen, weil der Anteil der Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt gestiegen wäre. Dieser liegt seit Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts konstant bei etwa 6 bis zu 6,5%.
Die Beitragssätze sind gestiegen, weil die Beitragsbasis für die gesetzliche Krankenversicherung nicht so schnell gestiegen ist wie das Bruttoinlandsprodukt. Diesem Problem begegnet die Bürgerversicherung daher mit der Verbreiterung der Beitragsbasis. Die Beiträge könnten auf
deutlich unter 15 % im Jahr 2030 gehalten werden, wenn der Wettbewerb der Bürgerversicherung durch weitere Strukturreformen ergänzt werden könnte.
Das deutsche Gesundheitssystem ist etwa ein Viertel bis zu ein Drittel teurer als die europäischen Gesundheitssysteme im Durchschnitt, ohne dass dem ein entsprechender Spitzenplatz bei der Qualität gegenüber stehen würde.10 Außerdem wurde auch nicht berücksichtigt, dass mit der
steigenden Lebenserwartung die Kosten für die letzten Lebensjahre wahrscheinlich sinken werden, da auch in Deutschland gilt, dass ein großer Teil der Kosten im Gesundheitssystem in den letzten beiden Lebensjahren eines Menschen anfällt, und diese Kosten umso geringer sind, je älter der Mensch in seinen letzten beiden Lebensjahren ist. Viele teuren Untersuchungen und Eingriffe können aus medizinischen Gründen bei sehr alten Menschen nicht mehr durchgeführt werden. Dieser Effekt, der die Steigerungen der Beitragssätze begrenzt, wurde ebenfalls nicht berücksichtigt.
Bürgerversicherung und Arbeitsplätze
Durch die Berücksichtigung von Miet,- Zins- und Kapitaleinkünften und die steuerfinanzierten Beiträge der Beamten wird der Faktor Arbeit in der Bürgerversicherung entlastet. Eine weitergehende Entlastung des Faktors Arbeit würde sich möglicherweise ergeben, wenn der Arbeitgeberanteil in der Bürgerversicherung ausgezahlt würde. Auf diese Auszahlung wird auch der vermeintlich arbeitplatzschaffende Effekt der Einführung eines Kopfpauschalenmodells zurück geführt. Der Effekt ließe sich in einer Bürgerversicherung erreichen, ohne dass es zu einer Abschaffung des Prinzips der Leistungsfähigkeit wie im Kopfpauschalenmodell käme.
Gegen die Auszahlung des Arbeitgeberbeitrags spricht jedoch, dass die Arbeitgeber nur entlastet würden, wenn es danach zu beitragssteigerungen käme, die nicht zu entsprechenden kompensatorischen Lohnerhöhungen führen würden.
Sinnvoller wäre es, wenn über die notwendigen Strukturreformen und den Wettbewerb diese Kostensteigerungen vermieden werden könnten, da Deutschland bereits jetzt zu hohe Gesundheitskosten hat. Die Voraussetzungen für solche Strukturreformen wären deutlich besser, wenn die Arbeitgeber sich an der Finanzierung der Krankenversicherung weiter direkt beteiligen würden. Langfristig ist es die Ineffizienz unseres Gesundheitssystems, welche die meisten Arbeitsplätze vernichtet. Auch in einem Kopfpauschalenmodell wird nur ein Weg gesucht, diese Ineffizienz weiter bezahlbar zu halten, ohne dass die Arbeitgeber an den kostensteigerungen direkt beteiligt wären. So schlägt die CDU in den Leipziger Beschlüssen zwar Kopfpauschalen für die Finanzierung vor, von der Abschaffung der Kassenärztlichen Vereinigungen ist aber kein Wort zu lesen. Über steigende Lohnkosten blieben die Arbeitgeber aber indirekt an den Kostensteigerungen beteiligt. Jeder für schlecht erbrachte oder überflüssige medizinische Eingriffe ausgegebene Euro senkt die Produktivität unserer Wirtschaft: Die betroffenen Patienten sind weniger produktiv, die Kosten der Eingriffe hätten z.B. in die Bildungs- oder Familienpolitik investiert werden können und der Standort Deutschland wird sowohl für internationale Fachkräfte als auch für Investoren aus der Medizinindustrie weniger attraktiv, weil eine subventionierte Industrie langfristig ihre Konkurrenzfähigkeit verliert. Kein Land in Europa hatte so liberale Erstattungsregeln für Arzneimittel, 40.000 Arzneimittel sind am Markt. Dennoch hat auch kein Land einen ähnlichen Einbruch der eigenen Pharmaindustrie gesehen, weil die Mehrzahl dieser Produkte im Ausland nicht vermarktete werden konnte. In der Summe ist es mehr als zweifelhaft, ob Kopfpauschalen mehr Arbeitsplätze als eine Bürgerversicherung schaffen. Sie haben in der Schweiz seit 1996 den Effekt gehabt, dass die Kosten für Gesundheit pro Jahr um mehr als 5,5 % gestiegen sind. Durch Lohnsteigerungen und Steuererhöhungen musste dies kompensiert werden. Arbeitsplätze sind nicht entstanden. Alleine im letzten Jahr ist in der Schweiz die Arbeitslosigkeit um 25 % gestiegen.
Die Bürgerversicherung verhindert die beginnende Zwei-Klassen-Medizin
Nur in Deutschland gibt es eine private Versicherung ab einer Mindesteinkommensgrenze und für Beamte, wobei diese zum Teil über Beamtentarife nur teilabgesichert sind und zusätzlich ergänzende Beihilfeleistungen erhalten.
Ein solches System ist ökonomisch, medizinisch und ethisch fragwürdig. Durch die Tatsache, dass die privaten Krankenversicherungen für die gleiche Leistung besser bezahlen, obwohl ihre Versicherten in der Regel gesünder sind, wird ein Anreiz gesetzt, Beamte und Besserverdienende aufwendiger zu behandeln. Dies ist eine Form der Überversorgung, die das deutsche Gesundheitssystem teurer macht. So sind die Leistungsausgaben pro Vollversichertem der privaten Krankenversicherung in der Zeit von 1992 bis 2001 um rd. 43% gestiegen, die Leistungsausgaben der gesetzlich Versicherten nur um rd. 29 %.
Medizinisch führt dieses System zu einer gravierenden Fehlallokation der Spezialisten für fast jeden Fachbereich. Diese verbringen einen überproportional großen Teil ihrer Arbeitszeit mit den Erkrankungen privat Versicherter, statt sich um die schweren Fälle aller Versicherten zu bemühen. Die Situation hat sich noch verschlechtert, seit die privaten Krankenversicherungen verlangen, dass der liquidierende Spezialist die Leistung auch selbst erbracht haben muss, um abzurechnen, während in der Vergangenheit oft die Arbeit von weniger qualifizierten Ärzten durchgeführt werden konnte, und der Spezialist sie nur abgerechnet hat.
Man stelle sich vor, dass die besten Hochschullehrer nur die Kinder von Beamten oder Einkommensstarken unterrichten würden (eine Situation, von der wir aus anderen Gründen leider nicht weit entfernt sind). Die Spezialisten sollten besser bezahlt werden auf der Grundlage der Qualität ihrer Arbeit, nicht wegen des Anteils an Privatpatienten. Dieses System hat in der Zwischenzeit sogar die Forschungsleistungen der deutschen medizinischen Fakultäten deutlich reduziert, Spitzenplätze werden in fast keinem Bereich der klinischen Forschung mehr eingenommen. Hohe Gehälter hängen in deutschen medizinischen Fakultäten zu wenig von der Forschungsleistung und der Qualität der Behandlung aller Patienten und zu stark von den Nebeneinnahmen durch die Privatpatienten ab.
Ethisch ist dieses System fragwürdig, weil es die Versorgungsqualität indirekt vom Einkommen des Patienten abhängig macht. Nur wer das Mindesteinkommen hat oder beamtet ist, kommt in den Genuss der bevorzugten Versorgung. Dies widerspricht dem Prinzip der Chancengleichheit und der ärztlichen Berufsethik, die eine Diskriminierung nach Versichertenstatus nicht zulässt.
Gegen Zusatzversicherungen für besseren Komfort in der Medizin wie Einbettzimmer oder Wellness-Angebote ist nichts einzuwenden. Die medizinischen Kernleistungen müssen aber alleine nach dem medizinischen Bedarf in gleich guter Qualität für alle erbracht werden.
Ein System der Kopfpauschalen würde die Zwei-Klassen-Medizin noch verstärken
Sowohl Bert Rürup als auch die CDU schlagen bei der Einführung des Kopfpauschalenmodells („Pauschalprämien“) vor, dass es bei privater Versicherung für diejenigen, die das Mindesteinkommen übersteigen, und für Beamte als Teilversicherung mit zusätzlicher Beihilfeleistung bleiben soll. Somit würde sich an der bestehenden Zwei- Klassen-Medizin nichts ändern. Sie würde sich aber langfristig als Konsequenz der Umverteilung der Finanzierungslasten von oben nach unten, die mit der Einführung der Kopfpauschale einher ginge, noch deutlich verschärfen.
Nach dem Modell der CDU würden alle Geringverdiener und Rentner in Zukunft 15 % ihres Einkommens für die Krankenversicherung aufbringen. Belastet sie die Kopfpauschale mit mehr als 15 %, bekommen sie einen Steuerzuschuss. Die reale Belastung für die Niedrigverdiener dürfte dabei sogar etwas höher liegen, weil auch diese Einkommensschichten an der Finanzierung ihres eigenen Steuerzuschusses beteiligt sind. Für alle anderen ist die Gesamtbelastung relativ geringer, und je höher das Einkommen eines Versicherten ist, desto geringer ist sein prozentualer Krankenversicherungsbeitrag.14 Die Gewinner der Umstellung wären gut verdienende Alleinstehende, die Verlierer einkommensschwache Familien und Rentner. Mit jeder Kostensteigerung in der Medizin und in jeder Rezession würde sich der Anteil derer erhöhen, die Anspruch auf einen Steuerzuschuss hätten, damit die Gesamtbelastung nicht über 15 % steigt. Dieser Beitragssatz, der sich in der Bürgerversicherung erst 2030 und dann für alle Versicherten ergeben würde, wäre der Einstiegsbeitragssatz für die Einkommensschwachen im Modell der Kopfpauschalen.
Langfristig ergeben sich aber noch wichtigere Konsequenzen als die Umverteilung der Lasten bei der Einführung des Systems. In jeder Konjunkturschwäche wäre entweder das Leistungspaket der Kopfpauschale zu kürzen, oder es müssten prozyklisch trotz Konjunkturschwäche die Steuern erhöht werden, weil die Zahl der bedürftigen Haushalte steigen würde. Aus diesem Grunde wird im Vorschlag der CDU auch bereits jetzt vom „Standardpaket“ Kopfpauschale gesprochen.
Langfristig würde sich ein System der Gesundheitsversorgung wie in den Vereinigten Staaten ergeben. Die Sozialhilfeempfänger und Rentner hätten nur das Standardpaket der Kopfpauschale, die mittleren Einkommensgruppen hätten ein Paket der Kopfpauschalen und der privaten Zusatzversicherung, und die Einkommensstarken hätten die private Vollversicherung.
Wenn wir ein Gesundheitssystem für alle in der Gesellschaft entwickeln würden, ohne dass wir unsere eigene Position in der Gesellschaft schon kennen würden (dem Gedankenexperiment des amerikanischen Sozialphilosophen John Rawls folgend, der unter der Fiktion eines „Schleiers der Unwissenheit“ gerechte Institutionen entwickelt hat), käme ein solches System nicht in Frage, weil es unfair wäre.
Eine solche Zwei-Klassen-Medizin kann auch nicht mit dem Argument vertreten werden, dass sie Arbeitsplätze schaffe. Erstens wäre diese Aussage wahrscheinlich falsch, weil es zumindest keine empirische Evidenz für diese Aussage gibt. Modellrechnungen mit unsicheren Annahmen reichen nicht aus. Zweitens ist nicht jede Art, Arbeitsplätze zu schaffen, automatisch zu akzeptieren. Wenn es Alternativen gibt, die ebenfalls Arbeitsplätze schaffen, die Lösungen aber gerechter sind, sind diese auf jeden Fall vorzuziehen. In den skandinavischen Ländern konnte z.B. die Massenarbeitslosigkeit abgebaut werden, während gleichzeitig die Chancengleichheit im Gesundheitssystem und im Bildungssystem verbessert wurden.
Die dortigen Gesundheitssysteme sind Varianten einer Bürgerversicherung, ohne Extra-System für Privilegierte. Dies sollte auf jeden Fall die Vision der SPD, der Grünen und auch der Gewerkschaften sein. Und drittens müssen die derzeit durchgeführten Reformen auch im Verbund gesehen werden. Durch die geplante Steuerreform, die Rentenreform und die Arbeitsmarktreform sollen die Grundlagen für mehr Arbeitsplätze geschaffen werden.
Damit diese Reformen aber auch langfristig wirken können, muss mehr und nicht weniger in die Gesundheit der sozial Schwachen investiert werden. Produktivitätsgewinne hängen auch an den Bildungs- und Gesundheitsinvestitionen, die wir tätigen. Eine noch stärker ausgeprägte Zwei-Klassen-Medizin würde langfristig die Produktivität unsere Gesellschaft absenken.
Zusammenfassung und Ausblick:
Die Bürgerversicherung würde die Effizienz, Qualität, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit unseres Gesundheitssystems verbessern. Die Effizienz würde steigen, weil es zu mehr Wettbewerb zwischen den gesetzlichen und den privaten Krankenversicherungen kommen würde, insbesondere dann, wenn mit ihrer Einführung auch die Vertragsmonopole der Krankenkassenverbände und der Kassenärztlichen Vereinigungen beseitigt werden würden.
Die ineffiziente Überversorgung von Privatpatienten würde ebenso beseitigt werden wie die Risikoselektion bei der Aufnahme dieser Patienten. Die Qualität der Versorgung würde durch den intensiveren Wettbewerb der Ärzte und Krankenhäuser verbessert werden.
Wenn in Zukunft das Einkommen von Spezialisten nicht mehr von der Quote der Privatpatienten, sondern von der Qualität der Leistung abhängen würde, könnten diese bedarfsgerechter eingesetzt werden. Die Nachhaltigkeit der Krankenversicherung würde steigen, weil sich am solidarischen System nicht nur die Empfänger von Löhnen und Gehältern beteiligen würden, sondern auch Selbstständige, Beamte und Gutverdienende. Diese zahlen im Durchschnitt mehr in das solidarische System ein, als sie an Kosten verursachen. Die Nachhaltigkeit würde auch durch die Berücksichtigung von Miet-, Zins- und Kapitaleinkünften verbessert werden, deren Bedeutung am Volkseinkommen wachsen wird. Durch die Kombination der Verbreiterung der Versichertenbasis und der Einkommensbasis ließe sich der Beitragssatz bis zum Jahr 2030 auf 15 % begrenzen, durch Strukturmaßnahmen wäre er sogar darunter absenken.
Die Bürgerversicherung ist gerecht, weil die relative Belastung durch die Krankenversicherung nicht so stark wie bei einem Kopfpauschalenmodell mit steigendem Einkommen abfallen würde. In einem solchen Kopfpauschalenmodell würden die Geringverdiener schon bei Einführung 15 % bezahlen, jeder andere würde weniger zahlen. Wenn die Üerforderung der Einkommensschwachen 15 % bis zum Jahr 2030 nicht überschreiten sollte, müsste die demographiebedingte Kostensteigerung durch Steuererhöhungen aufgefangen werden. Dies würde den jährlich notwendigen Steuertransfer für die Einkommensschwachen auf mehr als 50 Mrd. Euro pro Jahr erhöhen. Wahrscheinlicher wäre es jedoch, dass es zu diesen Steuererhöhungen nicht kommen würde, und das Leistungspaket der Pauschalprämie abgesenkt werden würde. Die ausgelagerten Leistungen würden dann durch private Zusatzversicherungen abzudecken sein. Diese Lösung würde sozial Schwache, die nicht mehr als 15 % ihres Haushaltseinkommens ausgeben können, und bereits Erkrankte benachteiligen.
Beide wären praktisch von der Zusatzversicherung ausgeschlossen. Eine gerechte Gesellschaft setzt Chancengleichheit voraus, für die der einkommensunabhängige Zugang zu einer optimalen Gesundheitsversorgung und zum kompletten Bildungsangebot kennzeichnend sind. Gesundheit und Bildung dürfen daher nicht nur als Kostenfaktor für unsere Gesellschaft gesehen werden, sondern als Voraussetzungen für Produktivität und Wachstum. In einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft wie Deutschland können Wachstum und Produktivitätsgewinne nur erreicht werden, wenn wir in die Ressourcen aller Bürger investieren, damit diese länger gesund und lernfähig bleiben.
Somit ist die Bürgerversicherung nicht nur die gerechtere Lösung, sondern auch die ökonomisch bessere.