Sozialhilfe: Wenn es sich nicht rechnet, zu arbeiten

Hier stehen nützliche Informationen zu allgemeinen Fragen (Schwerpunkte) der Sozialhilfe und Armut.

Moderator: Ekelteam

Sozialhilfe: Wenn es sich nicht rechnet, zu arbeiten

Neuer Beitragvon Schaf » Donnerstag 26. August 2004, 14:14

Ziel von Sozialhilfe sollte sein, soziale Notlagen durch Hilfe zur Selbsthilfe zu überwinden. Arbeitslosen Empfängern von Sozialhilfe bietet unser Sozialsystem aber kaum Anreize, wieder in das Arbeitsleben zurückzukehren.

Eine aktuelle Studie belegt dies anhand konkreter Modellrechnungen. Wann ist ein Land eigentlich arm?
Wenn es viele Sozialhilfeempfänger gibt?
Und woran erkennt man, dass die Armut in einem Land zunimmt?
Etwa daran, dass der Anteil der Sozialhilfeempfänger steigt?

Träfe beides zu, dann gehörte Deutschland wohl zu den ärmeren Ländern dieser Welt. Glücklicherweise ist das nicht der Fall. Warum aber nimmt trotz steigendem allgemeinem Wohlstand die Zahl der Sozialhilfeempfänger nicht ab? Ein Grund liegt sicher auch darin, dass es sich für viele Sozialhilfeempfänger im gegenwärtigen System schlicht nicht rechnet, arbeiten zu gehen. Eine von der informedia-Stiftung geförderte Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft hat dies jüngst anhand von Modellbeispielen aufgezeigt.
Der Anschaulichkeit halber werden in den auf Westdeutschland bezogenen Rechenmodellen drei Haushaltstypen unterschieden: Alleinstehende, Alleinerziehende mit einem Kind im Alter von fünf Jahren und Ehepaare mit zwei Kindern im Alter von fünf und elf Jahren. Diesen drei Typen entsprechen rund 60 Prozent aller Sozialhilfehaushalte. Ein Ehepaar mit zwei Kindern kommt danach durch die Sozialhilfe auf ein verfügbares Haushaltseinkommen von 2 893 DM im Monat.
Ein vergleichbarer verheirateter Alleinverdiener mit zwei Kindern verfügt bei einem Bruttoverdienst von 3 000 DM einschließlich der Sozialtransfers über ein Nettoeinkommen von 3 074 DM.
Zwischen Nicht-Arbeit und Vollzeit- Erwerbstätigkeit liegt demnach nur eine Differenz von 181 DM. Nicht genug, um einen wirklichen Anreiz für die Aufnahme einer Arbeit darzustellen.Die Grundlage für die Berechnung der Sozialhilfe sind die Regelsätze. Sie sollen sich am Verbraucherverhalten der Haushalte mit niedrigem Einkommen orientieren und entsprechend der Entwicklung von Nettoeinkommen und Lebenshaltungskosten ständig angepasst werden. Für die drei Modellhaushalte kommt man auf folgende Monatsbeträge: Im westdeutschen Durchschnitt liegt der Regelsatz für den Haushaltsvorstand bei 546 DM, im Fall der Alleinerziehenden sind es 846 DM und beim Familienvater mit zwei Kindern 1 611 DM. Die Regelsätze werden durch Sonderleistungen und Mehrbedarfszuschüsse aufgestockt: Kosten für Unterkunft und Heizung, Zusatzleistungen für Behinderte, Kranke und Alleinerziehende, Zuschüsse für Bekleidung, Hausrat und Lernmittel. Sozialhilfeempfänger müssen sich im Einzelfall aber auch Abzüge gefallen lassen: Der vierköpfigen Familie wird Kindergeld in Höhe von jeweils 250 DM abgezogen, den Alleinerziehenden Kindergeld und Unterhalt. Außerdem kommt es zu Abzügen, wenn das Vermögen bestimmte Freigrenzen übersteigt. Bei der Berechnung der verfügbaren Einkommen von Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfeempfängern wurde allerdings davon ausgegangen, dass die Haushalte über kein Vermögen und keinerlei Erwerbseinkommen verfügen.
Außerdem wurde unterstellt, dass der Arbeitslosengeldempfänger bei seiner letzten Erwerbstätigkeit ein Bruttoarbeitseinkommen von 3 000 DM hatte, also noch deutlich unter dem deutschen Durchschnittseinkommen des Jahres 1999 von knapp 4 300 DM lag. Unter diesen Rahmenbedingungen ergibt sich ein Regelbedarf beim Alleinstehenden von monatlich 1 181 DM; bei Alleinerziehenden kommen das Kindergeld und der vom Jugendamt gezahlte Unterhaltsvorschuss hinzu, so dass sich ein verfügbares Einkommen von 1 961 DM ergibt.
Beim Ehepaar mit zwei Kindern summieren sich Regelbedarf und andere Leistungen auf 2 893 DM. Verheiratet, zwei Kinder:
Nicht erwerbstätig
bei Bezug vonArbeitslosengeld bei Bezug von
Arbeitslosenhilfe nur Bezug vonSozialhilfe
Kindergeld 540 540 540
aufstockendeSozialhilfe 773 1009 -
Arbeitslosengeld 1580 - -
Arbeitslosenhilfe - 1344 -
Sozialhilfe - - 2353
VerfügbaresEinkommen 2893 2893 2893
In DM pro Monat;
Für einen Verheirateten in Steuerklasse III, mit zwei Kindern (5 und 11 Jahre), letzter Bruttoverdienst 3 000 DM;
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft.


Soweit die reine Lehre. Im Alltag gibt es jedoch viele Fälle, in denen das Sozialamt nur einen Teil dieser Beträge zahlt - man spricht hier von aufstockender Sozialhilfe. Das ist etwa bei Arbeitslosen, die noch Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe beziehen, der Fall. Letztendlich ergibt sich für Sozialhilfeempfänger, die derartige Leistungen beziehen, ein verfügbares Einkommen, das etwa so hoch ist wie im Fall der alleinigen Sozialhilfe.
Im Bundessozialhilfegesetz ist der Auftrag verankert, dem Sozialhilfeempfänger Anreize zu schaffen, von der Sozialhilfe unabhängig zu werden, also sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Dementsprechend kann der Sozialhilfeempfänger bis zu einer bestimmten Grenze Geld dazuverdienen, ohne dass ihm Hilfeleistungen gestrichen werden.

Allerdings sind das nur 136,50 DM im Monat - wer darüber hinaus verdient, dem wird der Betrag oberhalb dieser Marke von der Sozialhilfe wieder abgezogen.

Verheiratet, zwei Kinder: Erwerbstätig
Vollzeitstelle3 000 DM brutto Zwei-Drittel-Stelle 2 000 DM
brutto
Nettoerwerbs-einkommen 2 382 1588
Kindergeld 540 540
Wohngeld 152 -
aufstockendeSozialhilfe - 967
Arbeitslosenhilfe - 71
VerfügbaresEinkommen 3074 3166

In DM pro Monat;

Für einen Verheirateten in Steuerklasse III (Alleinverdiener), mit zwei Kindern (5 und 11 Jahre);
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft.

Schon allein dieses Beispiel macht deutlich, dass die Sozialhilfe Arbeitslose kaum motiviert, eine geregelte Arbeit aufzunehmen. Noch abstruser wird es bei einem Verheirateten mit zwei Kindern: Hat der Familienvater früher im Monat 3 000 DM brutto verdient, verfügt er im Fall der Arbeitslosigkeit über ein Einkommen von insgesamt 2 893 DM - bestehend aus dem Arbeitslosengeld von 1 580 DM, der aufstockenden Sozialhilfe von 773 DM und dem Kindergeld von 540 DM.
Auch wenn das Familienoberhaupt länger arbeitslos ist und Arbeitslosenhilfe erhält, ändert sich sein verfügbares Einkommen nicht, weil die geringere Arbeitslosenhilfe durch aufstockende Sozialhilfe kompensiert wird. Die Höhe des verfügbaren Einkommens ändert sich auch dann nicht, wenn die Modellfamilie ausschließlich von der Sozialhilfe lebt.
Angenommen, einer der beiden Erwachsenen würde nun wieder arbeiten gehen und 3 000 DM brutto verdienen, dann würde das verfügbare Einkommen gerade einmal um 181 DM auf monatlich 3 074 DM steigen. Aber wer möchte schon gerne wegen einer Differenz von 181 DM einen ganzen Monat lang arbeiten?

Doch damit nicht genug der Ungereimtheiten: Geradezu abstrus wird es, wenn der verheiratete Alleinverdiener nun eine Zweidrittel-Stelle antritt, sich sein Bruttoverdienst somit auf 2 000 DM reduzieren würde. Dann würde das niedrigere Nettoeinkommen durch Arbeitslosenhilfe, aufstockende Sozialhilfe und Wohngeld so aufgebessert, dass er jetzt auf ein verfügbares Haushaltseinkommen von 3 166 DM käme: Eine um ein Drittel verkürzte Arbeitsleistung würde somit im Vergleich zur Vollzeit-Beschäftigung durch ein um 92 DM höheres Einkommen belohnt. Diese Beispiele belegen, dass das deutsche Sozialhilfesystem einige gravierende Webfehler aufweist, die drineitigt werden müssen.
Dem Fürsorgeprinzip wird weitaus größere Bedeutung eingeräumt als dem Anreiz zur Arbeitsaufnahme. Dies beruht vor allem auf dem Konstruktionsfehler, dass das bestehende System auf mehrere Verantwortungsebenen verteilt ist, und damit die organisatorischen und die finanziellen Zuständigkeiten häufig auseinander fallen. Das System wird auf diese Weise zu einem Verschiebebahnhof, in dem Kostenträger und Verwaltung hauptsächlich daran interessiert sind, die Hilfeempfänger bei einem anderen Träger unterzubringen, anstatt sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. So werden Sozialhilfeempfänger, die keinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe haben, vom Sozialamt ein Jahr lang sozialversicherungspflichtig beschäftigt und anschließend zum Arbeitsamt weitergereicht. Ähnliche Verschiebungen gibt es auch zwischen Sozialamt und Wohnungsamt. Die aufstockende Sozialhilfe macht das System vollends undurchsichtig und verwischt die beabsichtigten Anreize. Wenn die Arbeitslosenhilfe bis zum Regelbedarf aufgestockt wird, schafft die Trennung der Hilfesysteme nur Verwirrung, vermehrt die Bürokratie und erhöht den Anreiz zu Schwarzarbeit. Ein erster Schritt, diese Fehlsteuerungen zu beseitigen, wäre die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in kommunaler Trägerschaft. Auf örtlicher Ebene leisten einzelne Kooperationsverträge zwischen Sozial- und Arbeitsämtern bereits gute Vorarbeit. Solange aber bei Nicht-Arbeit ein nahezu gleich hohes Transfereinkommen erzielt wird wie bei Arbeitsaufnahme, kann auch das nicht wirklich funktionieren.

Drei Modell-Fälle deutscher Sozialhilfe: Was unter dem Strich bleibt
Alleinstehende Alleinerziehende 1 Kind (5 Jahre) Ehepaar2 Kinder (5,11 Jahre)


Regelsatz 546 8 46 1611
+ Mehrbedarf - 218 -
+ einmalige Leistungen 87 147 303
+ Unterkunft und Heizung 548 730 939
- Kindergeld - 250 500
- Unterhalt - 220 -
= Regelbedarf insgesamt 1181 1471 2353
+ Kindergeld - 270 540
+ Unterhalt vom Jugendamt - 220 -
= Verfügbares Einkommen 1181 1961 2893
+ Krankenversicherung 254 254 254
= Summe aller Transfers 1435 2226 3147
In DM;
Durchschnittswerte für Westdeutschland pro Monat; Stand: 1. Halbjahr 2000; Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Institut der deutschen Wirtschaft.

Basis dieser Publikation ist die Studie "Das deutsche Sozialhilfesystem - Im Spannungsfeld zwischen sozialer Fürsorge und Hilfe zur Arbeit" von Waltraut Peter, in "iw-trends", 2/2000.
© 2000 Bundesverband deutscher Banken, Berlin
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aber um was zu erreichen muss man alles tun,
auch was aussichtslos scheint.
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